Manche Spiele treffen genau die Sparte, die Spielerinnen und Spieler schon seit Jahrzehnten in sich tragen. Wer in den 90ern mit Final Fantasy oder Fire Emblem aufgewachsen ist, wird sich sofort zuhause fühlen, wenn sich Lost Eidolons: Veil of the Witch öffnet und seine Mischung aus Taktik, Strategie und Roguelite-Struktur entfaltet. Entwickelt von Ocean Drive Studio, ist das Spiel ein Spin-off des 2022 erschienenen Lost Eidolons und fokussiert sich auf kompaktere, wiederholbare Abenteuer mit einer betont düsteren Atmosphäre.
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Die Geschichte beginnt mit einem klassischen, aber wirkungsvollen Motiv. Der oder die Protagonist*in strandet nach einem Schiffbruch auf einer geheimnisvollen Insel zwischen Leben und Tod. Dort begegnet man Sable, der Hexe des Nebels, die sich als Eidolon vorstellt, ein mächtiges, übernatürliches Wesen. Ohne Erinnerung an die eigene Vergangenheit muss man eine Gruppe von Kriegerinnen und Kriegern zusammenstellen, um das eigene Schicksal wiederzufinden. Schon dieser Auftakt zeigt, dass Lost Eidolons: Veil of the Witch nicht einfach ein weiteres taktisches Rollenspiel ist, sondern gezielt Atmosphäre und Mysterium an die erste Stelle setzt.
Zwischen Leben und Tod
Von Anfang an überzeugt das Spiel mit seiner dichten Inszenierung. Die Dialoge sind vertont, die Figuren lebendig gezeichnet, und die Beziehung zwischen der Hexe Sable und dem namenlosen Helden ist von Anfang an spannend. Die Qualität der englischen Sprecherinnen und Sprecher ist überraschend hoch, und viele Passagen klingen fast wie aus einer hochwertigen Anime-Produktion. Schon nach kurzer Zeit entsteht das Gefühl, dass hier nicht nur ein Taktikspiel, sondern eine sorgfältig erzählte Geschichte wartet. Im Zentrum steht das Team, das man um sich schart: Eevie, Marco, Laurent und Emile bilden die anfängliche Gruppe, die sich nach und nach erweitern lässt. Jeder dieser Charaktere besitzt eigene Waffen, Rüstungen, Fähigkeiten und eine kleine persönliche Geschichte, die sich in Gesprächen vertiefen lässt. Diese Gespräche sind kein bloßes Beiwerk, sondern tragen spürbar zum Spielfortschritt bei, denn sie stärken die Bindungen innerhalb der Gruppe. Beziehungen zwischen Figuren wirken sich später sogar auf den Verlauf der Kämpfe aus, wenn Partnerboni oder besondere Aktionen ausgelöst werden.
Der Stil des Spiels ist schlicht, aber elegant. Charakterporträts im 2D-Anime-Look wechseln sich mit taktischen Schlachtfeldern ab, die in isometrischer Perspektive präsentiert werden. Auch wenn die Grafik keine Maßstäbe setzt, sorgt sie für klare Lesbarkeit und einen charmanten Stil, der gut zur Erzählung passt. Besonders die düsteren Farbpaletten und die Soundkulisse erzeugen ein Gefühl ständiger Bedrohung, das den Kern der Geschichte unterstreicht.
Kampf um jeden Zug
Kernstück des Spiels ist das Kampfsystem, das klassisches, rundenbasiertes Taktik-Gameplay bietet. Wer Fire Emblem, Triangle Strategy oder Tactics Ogre mag, wird sich sofort zurechtfinden. Jede Einheit auf dem Schlachtfeld verfügt über Bewegungspunkte, Angriffsreichweiten und Spezialfähigkeiten. Dabei ist jede Entscheidung wichtig: eine falsche Positionierung kann schnell den Verlust einer Figur bedeuten. Das Tutorial erklärt die Mechaniken präzise und nachvollziehbar. Danach entfaltet sich die Tiefe Schritt für Schritt. Jede Figur besitzt einzigartige Fähigkeiten, etwa Unsichtbarkeit, Flächenangriffe, Unterstützungszauber oder Buffs. Damit lassen sich unzählige taktische Kombinationen entwickeln. Besonders clever ist das System der Umweltinteraktionen: Figuren, die durch nasse Felder laufen, werden durchnässt und sind anfälliger für Blitzangriffe. Zwar sind diese Effekte noch selten, doch sie zeigen, wie viel Potenzial im Kampfsystem steckt.
Ein interessantes Detail ist die „Undo“-Funktion. Bis zu drei Züge pro Kampf lassen sich zurücknehmen, um Fehlentscheidungen zu korrigieren. Dieses Feature schafft eine Balance zwischen Herausforderung und Fairness, ohne den Spannungsbogen zu zerstören. Jeder Kampf bleibt anspruchsvoll, aber niemals frustrierend. Nach einigen Gefechten offenbart sich, wie variantenreich die Möglichkeiten sind. Das Repertoire an Waffen, Skills und Klassen ist groß, und wer experimentierfreudig ist, kann jedes Mitglied der Gruppe zu einer völlig neuen Rolle umgestalten. Das gibt Lost Eidolons: Veil of the Witch ein ungewöhnlich hohes Maß an Freiheit, das man in vielen modernen Taktikspielen vermisst.
Der Weg ist das Ziel
Da das Spiel zugleich ein Roguelite ist, spielt sich keine Expedition gleich. Nach jeder Mission kann man entscheiden, welchen Pfad man einschlägt: Sucht man nach Resonanzsteinen, um Waffen zu verstärken, oder jagt man Imperiale, um Gold und Erfahrung zu sammeln? Diese Wahlfreiheit verleiht dem Spiel Struktur und Wiederspielwert. Der Weg zur nächsten großen Schlacht ist nie linear, sondern gespickt mit Entscheidungen. Spannend ist auch das Fortschrittssystem. Während Waffen, Ausrüstung und Skills nach einem Durchlauf zurückgesetzt werden, bleibt der Fortschritt am Altar des Feuers bestehen. So schaltet man neue Talente, Boni und Charaktere frei, die den nächsten Versuch erleichtern. Das motiviert zum Weiterspielen, auch wenn man eine Niederlage erleidet.
Das Gefühl, immer stärker zu werden, obwohl man im klassischen Roguelite-Sinne scheitert, ist eine der großen Stärken von Lost Eidolons: Veil of the Witch. Es ist dieser Kreislauf aus Versuch, Verbesserung und Neubeginn, der den Spielspaß trägt. Hinzu kommt die ständige Möglichkeit, die Zusammensetzung des Teams zu verändern. Neben den Startfiguren lassen sich neue Charaktere rekrutieren, etwa Söldner, Heiler oder Kämpfer, die gegen das Imperium kämpfen. Insgesamt kann man bis zu neun Figuren freischalten, von denen immer fünf in die Schlacht ziehen dürfen.
Freiheit, Verantwortung und Wiederholung
Der Aufbau der Charaktere folgt einer klaren Logik: Man kann den Hauptcharakter zu einem schwer gepanzerten Tank, einem schnellen Assassinen oder einem präzisen Bogenschützen formen. Genauso flexibel sind die Nebenfiguren, deren Waffen, Fertigkeiten und Attribute individuell angepasst werden können. Mit den Resonanzsteinen lassen sich Waffen und Rüstungen aufwerten, wodurch nicht nur die Werte steigen, sondern auch neue Fähigkeiten hinzukommen. Diese Mechanik zwingt zu Entscheidungen, denn die Ressourcen sind begrenzt und jeder Stein, den man vergibt, verändert den Spielstil spürbar.
Besonders gelungen ist, dass selbst kleine Entscheidungen große Wirkung entfalten. Ob man eine Mission riskiert, um zusätzliche Materialien zu gewinnen, oder lieber auf Sicherheit spielt, wirkt sich direkt auf die Erfolgschancen aus. Selbst der sprechende Rabe, der optionale Aufträge anbietet, ist mehr als nur eine nette Spielerei, denn er führt manchmal zu einzigartigen Ereignissen oder Belohnungen. Das Spiel versteht es, die Spannung zwischen Risiko und Belohnung permanent aufrechtzuerhalten. Wer zu hastig vorgeht, wird scheitern, wer zu defensiv spielt, verliert Tempo. So entsteht eine angenehme Dynamik, die an die besten Genrevertreter erinnert.
Fazit
Lost Eidolons: Veil of the Witch ist ein seltenes Beispiel für ein Roguelite, das erzählerische Tiefe mit taktischem Anspruch vereint. Es ist nicht fehlerfrei, aber es hat Charakter, Herz und eine klare Identität. Die Kämpfe sind fordernd, das Fortschrittssystem motivierend und die Figuren glaubwürdig. Kritisch anzumerken sind einige Kleinigkeiten: Die Umgebungsinteraktionen könnten vielfältiger sein, und die Routen zwischen den Kämpfen bieten noch zu wenig Variation. Auch grafisch bleibt das Spiel hinter moderner Konkurrenz zurück. Doch diese Schwächen verblassen im Angesicht der gelungenen Kombination aus Strategie, Wiederspielwert und Atmosphäre. Am Ende bleibt das Gefühl, ein Spiel erlebt zu haben, das mit Leidenschaft und Sorgfalt entwickelt wurde. Ocean Drive Studio hat mit Lost Eidolons: Veil of the Witch gezeigt, dass klassische Taktik-RPGs auch 2025 noch relevant sein können und dass selbst in einem Genre voller Regeln und Systeme Platz für Emotion und erzählerische Wärme ist.
Wer anspruchsvolle Rundenkämpfe, Teamaufbau und eine Prise Mysterium liebt, findet hier ein Spiel, das lange in Erinnerung bleibt. Pro und Kontra liegen dicht beieinander: Auf der einen Seite steht das hervorragend designte Kampfsystem, die hohe strategische Tiefe und die große Freiheit bei der Charaktergestaltung. Auf der anderen Seite stehen kleinere Schwächen wie limitierte Umweltinteraktion und etwas zu ähnliche Missionspfade. Insgesamt aber überwiegt der positive Eindruck deutlich.